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Sexueller Missbrauch durch Leiter: Diese Sätze sind tabu!

Wie geht man mit geistlichen Leitern um, die Frauen sexuell missbraucht haben? Fünf Aussagen, fünf Widerlegungen.

Von Christina Schöffler

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Wieder einmal ist es passiert. Vor kurzem kam an die Öffentlichkeit, dass der besonders im englischsprachigen Raum bekannte Evangelist und Theologe Ravi Zacharias Frauen sexuell missbraucht hat. Nebenbei erfahre ich, dass Ähnliches vor einem Jahr auch über Jean Vanier, Gründer der Arche-Gemeinschaften, bekannt wurde. Beide Geschichten verbindet, dass der jahrelange Missbrauch erst ein Jahr nach dem Tod der Männer ans Licht kam.

Ich bin bestürzt und traurig. Ich frage mich wie es sein kann, dass diese Männer, durch deren Leben augenscheinlich so viel Licht und Heil Gottes kommen konnte, einen so zerstörerischen und kranken Teil ihres Lebens versteckt halten konnten. Ich spüre den Reflex zu sagen, dass wir alle Dunkles in uns tragen. Oder dass wir wunderbar darin sind, christliche Leiter auf ein Podest zu heben, und dann zutiefst schockiert zu reagieren, wenn sie sich als fehlbare Menschen erweisen. Und sollte nicht jeder erst einmal vor seiner eigenen Haustüre kehren? Ich kehre. Ganz schön viel Dreck. Und trotzdem lässt mir das Thema keine Ruhe.

Ich stoße auf einen Artikel von Tanya Marlow, einer englischen Autorin, deren Blog ich schon länger verfolge. Sie äußert sich nicht oft. Und wenn, dann ist es meistens sehr vorsichtig formuliert, aus ihrem Hinhören auf Gott. Dieser Artikel ist anders. Klar und herausfordernd. Sie schreibt über typische Reaktionen, Sätze, die nach aufgedecktem Missbrauch oft in unseren Gemeinden fallen, die gut gemeint sind, aber letztlich genau das Gegenteil bewirken. Ich fühle mich ertappt. Weil ich die Worte so gut kenne. Weil ich sie teilweise selbst schon so gesagt habe. Worte, die es, so Marlow, für die Täter in christlichen Gemeinden leichter machen, weiter zu missbrauchen. Deshalb sind hier fünf Dinge, die Christen nicht mehr über Täter von sexuellem Missbrauch sagen sollten.

Reaktion 1: Falsche Gleichmacherei

„Es ist natürlich eine schreckliche Tat, aber wir bestehen alle nur durch die Gnade Gottes. Wir sind alle zerbrochene Menschen und dürfen nicht richten.“ Das ist das beliebteste Argument bei allen Skandalen. Ich finde es ehrlich gesagt besorgniserregend, wenn ein christlicher Gemeindeleiter, der erfährt, dass ein Mann sexuellen Missbrauch begangen hat, mit den Worten reagiert: „Lasst uns nicht zu hart sein – so etwas hätte mir doch auch passieren können.“

Wir „richten“ nicht, wenn wir den Horror nachhallen lassen, den die Opfer von Missbrauch durchmachen mussten.

Ja, wir lügen alle einmal, ja, wir alle reagieren manchmal unbeherrscht und ungerecht, ja, wir alle brauchen Vergebung. Aber nicht jeder von uns vergewaltigt Menschen. Und die allermeisten von uns fühlen sich nicht einmal versucht, andere Menschen sexuell zu missbrauchen.

Das Problem von dieser ersten Reaktion ist, dass sie letztlich Verbrechen relativiert, die uns mit Schrecken erfüllen sollten! Wir „richten“ nicht, wenn wir den Horror nachhallen lassen, den die Opfer von Missbrauch durchmachen mussten. Und es spielt in die Hände der Täter, wenn wir ihnen zustimmen, dass jeder in Versuchung geraten würde, wenn er nur die Hälfte ihrer Möglichkeiten hätte, und dass sexueller Missbrauch auch nichts anderes ist als jede andere Sünde.

Reaktion 2: Das Podest ist schuld

„Es ist nicht seine Schuld – eigentlich ist es die Schuld der Kirche, weil sie ihn auf ein Podest gestellt hat. Jesus ist der Einzige, dem wir vertrauen sollen!“ Lass es mich ganz einfach sagen, denn die Latte liegt diesbezüglich sehr niedrig: Es ist kein Podest, wenn ich erwarte, dass ein christlicher Leiter keine Sexualverbrechen begeht!

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Natürlich erwarten wir nicht, dass christliche Leiter perfekt sind. Aber es gibt einen Grund, warum der Apostel Paulus strenge Kriterien aufstellt, wenn es um den Charakter eines Leiters geht: Weil es offensichtlich etwas Wichtiges ist. Und wir dürfen zu Recht von christlichen Leitern erwarten, dass sie Menschen mit einem guten Charakter sind, auch wenn sie natürlich nicht perfekt sind. Und schließlich ist es doch richtig, wenn die Beziehungen innerhalb unserer Gemeinden – die Leiter mit eingeschlossen – von gegenseitigem Vertrauen geprägt sind. Ansonsten gäbe es keine christliche Gemeinschaft. Mit Reaktion 2 wird letztlich subtil dem Opfer – und nicht dem Täter! – die Schuld zugeschoben, so vertrauensvoll gegenüber dieser Person gewesen zu sein.

Reaktion 3: Der falsche Hoffnungsschimmer

„Natürlich war der Missbrauch schlecht. Aber ist es nicht ein großartiges Beispiel dafür, wie Gott jeden gebrauchen kann – sogar Sexualverbrecher und Mörder?“ Normalerweise wird ein geschickter manipulativer Sexualverbrecher nicht nach der ersten Anschuldigung zur Strecke gebracht. Der Täter wird alles tun, um die Schuld von sich auf das Opfer zu schieben. Direkte Einschüchterung, Machtausübung oder Drohungen können ein Opfer davon abhalten, an die Öffentlichkeit zu gehen. Was bedeutet: Wenn Opfer es endlich wagen auszusagen, liegt meist eine lange Zeit – oft Jahrzehnte(!) – hinter ihnen, in der sie sich selbst die Schuld an dem Missbrauch gegeben haben. Das macht vor allem dann Sinn, wenn ihnen der Rest der Welt vermittelt, was für ein guter und vertrauenswürdiger Mann der Täter doch war. Wenn wir also weiterhin den vergangenen Dienst eines Täters hervorheben – und sogar auf gewisse Art und Weise damit versuchen, seine schlechten Taten auszugleichen – fügen wir mit unseren Worten den bereits traumatisierten Opfern noch weiteren schweren Schaden hinzu.

Welche Botschaft senden wir nun an die Opfer sexueller Gewalt, wenn die Kirche Sexualverbrecher weiterhin als Autoritäten zitiert?

Reaktion 4: Die Bücher überhöhen

Natürlich verurteilen wir den Täter. Aber wir können immer noch seine Worte schätzen, zitieren und ehren, denn die sind wirklich gut. Es ist schade, wenn die Verlage seine Bücher zurückziehen.“ Jüngste Statistiken zeigen, dass mindestens 20 Prozent aller Frauen und 4 Prozent aller Männer irgendwann nach ihrem 16. Lebensjahr sexuelle Gewalt erlebt haben. Auch wenn man glaubt, niemanden zu kennen, der missbraucht wurde, Fakt ist: Jeder kennt jemanden, der missbraucht wurde. Es kann dein Freund, deine Schwester, deine Cousine, dein Pastor oder deine Ärztin sein. Welche Botschaft senden wir nun an die Opfer sexueller Gewalt überall in der Welt, wenn die Kirche Sexualverbrecher weiterhin als Autoritäten zitiert? Ich verkünde mal kühn, dass es alternativ tausende theologischer Bücher gibt, die nicht von Sexualstraftätern verfasst wurden. Es ist nur ein kleiner Aufwand, einen anderen Schriftsteller zu finden, der Ähnliches gesagt hat (wenn auch vielleicht nicht ganz so brillant).

Reaktion 5: Der biblische Freibrief

„Was ist mit David? Er hat Bathseba sexuell genötigt und er war ein Mörder. Gott hat ihn vollmächtig gebraucht, und wir lesen immer noch seine Worte in der Bibel.“ Ich finde es faszinierend, dass uns David meistens zuerst einfällt, wenn wir ein biblisches Beispiel suchen. Die Geschichte aus 2. Samuel 13 über den Vergewaltiger Amnon, Sohn von König David, wäre besser für einen Vergleich geeignet. Sie ging längst nicht so gut aus wie Davids Geschichte. Wenn wir uns schon auf die Bibel berufen, dann sollten wir uns auf die ganze Bibel berufen, in ihrer ganzen Komplexität: Sowohl im Alten als auch im Neuen Testament finden wir einen wiederkehrenden Refrain über Gottes Sorge für die Unterdrückten und Schwachen und seine Liebe zur Wahrheit und Gerechtigkeit.

Gott begegnet dem Bösen nicht als neutraler Zuschauer. Gott ergreift Partei.

Jesus reservierte ein ganz besonderes Ausmaß an Zorn für religiöse Leiter, die die Schwachen unterdrückten. Es ist so wichtig für die Opfer von geistlichem Missbrauch, dass sie wissen, dass Gott zornig über das Verhalten der Täter ist und ihn diese Sünde zutiefst schmerzt! Gott begegnet dem Bösen nicht als neutraler Zuschauer. Gott ergreift Partei. Durch die Bibel hinweg ist Gott auf der Seite der Unterdrückten und nicht auf der Seite des Unterdrückers, immer und immer wieder, und wir sind berufen, die Unterdrückten zu verteidigen und nicht die Unterdrücker.

Also, wenn wir das nächste Mal von einem männlichen christlichen Leiter hören, der Frauen missbraucht hat, auf wen sollen wir unsere Aufmerksamkeit richten? Auf die Frauen. Die Frauen!

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Es ist unsere Chance, ihre Geschichten zu hören und den Schrecken darin nachhallen zu lassen. Es ist unsere Gelegenheit, sie zu ehren, sie stellvertretend um Vergebung zu bitten und mit ihnen zu klagen. Es ist unsere Möglichkeit, als Teil einer größeren Gemeinschaft, die sie verletzt hat, ihr Vertrauen zurückzugewinnen, um ein Platz der Heilung werden zu können. Es ist unsere Chance sie zu fragen, was sie brauchen und was wir von ihnen lernen können.

Soweit Tanya Marlows Artikel, den ich hier stark verkürzt wiedergegeben habe. Ausführlich ist er auf ihrer Website www.tanyamarlow.com nachzulesen. Es sind krasse Aussagen, die mich zum Nachdenken bringen. Eine Sache, die ich noch ergänzen würde, ist der Aspekt der Buße. Der scheint mir bei König David das Entscheidende gewesen zu sein (und deshalb bete ich sein Gebet von Herzen mit: „Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz!“). Ravi Zacharias sowie auch Jean Vanier hatten noch vor ihrem Tod die Gelegenheit, Buße zu tun. Es gab Fragen, Aussagen von Frauen. Dass sie diese Chance nicht zur Umkehr genutzt haben, finde ich tragisch. Gott wird in seiner Weisheit am Ende über ihr Leben richten.

Wir müssen um Worte ringen und wir müssen Fragen stellen – auch die unbequeme Sorte – damit wir mehr verstehen.

Der internationale Leiter der Arche-Gemeinschaften, Stephan Posner, äußerte im Blick auf ihren Gründer Vanier: „Wir müssen Fragen stellen, damit wir mehr verstehen können. Auch über unsere Gründungsgeschichte. Unsere Geschichte ist zum Teil sehr zerbrochen. Das müssen wir akzeptieren. Nehmen wir uns die Zeit, unsere Geschichte auf eine neue Art zu begreifen und zu erzählen?“ Das Ravi-Zacharias-Institut teilt jetzt mit, dass es seinen Namen ändern wird. Die Geschichte muss auch hier neu geschrieben werden. Das zumindest steht für mich fest: Wir müssen um Worte ringen und wir müssen Fragen stellen – auch die unbequeme Sorte –, damit wir mehr verstehen. Dafür sollten wir uns Zeit nehmen. Die Geschichte der Gemeinde Gottes ist zum Teil sehr zerbrochen. Und das wird wohl auch so bleiben. Trotzdem hoffe ich, dass es uns in Zukunft gelingt, manches auf neue Weise zu schreiben und zu begreifen. Damit sich mehr ändert als nur die Namen.

Christina Schöffler ist Autorin, Bloggerin und Gemeindegründerin.


Diesen Artikel schrieb Christina Schöffler für das Magazin Joyce. Dafür hat sie die Thesen der Autorin Tanya Marlow (übersetzt von Christiane Kallenberg) wiedergegeben und kommentiert. Joyce erscheint regelmäßig im SCM Bundes-Verlag, zu dem auch Jesus.de gehört. 

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